Geschichten! – brauchst du sonst noch was?

Türchen

Inhalt heute:

Episoden aus der Reha – oder: wie man Langeweile bekämpft

Eine epische E-Mail Geschichte.

Hallo ihr Zuckerpuppen, 

Ich scheine hier am Ende des globalen Netzes zu hocken. Das Internet ist langsamer als ich auf dem Fahrrad. Trotzdem versuche ich, euch schnell ein paar nasse Grüße zu senden. 

Ich hab furchtbar Heimweh. Und mir ist so fad…

Das Wetter hier ist eine einzige Katastrophe. Grauer Himmel mit dicken Regenwolken vom Meer. Nix mit Sonnenschein und Strandkorb. Nicht einen einzigen Tag, seit ich hier bin, saß ich in einem dieser gemütlichen Sitzmöbel. Viel zu kalt. Hier kriegst du Depression anstatt Inspiration. 

Zum Glück habe ich winterfeste, Sibirien-im-Winter-taugliche Klamotten mit. 

Für meine Bronchien ist dieses Wetter allerdings alles andere als förderlich. Nach der OP ist normales Atmen manchmal nicht so leicht. Ich gerate schnell aus der Puste. Aber die 10 km wandern in Gummistiefeln, die habe ich prima überstanden. Hab mich in Wäldchen verirrt, wisst ihr und da habe ich so ganz aus Versehen zwei Walking-Routen abgelaufen. In neuen Gummistiefeln. Die Beschilderung der Strecken ist nicht für meine Bedürfnisse ausgerichtet oder ein Scherzbold hat die Schilder verdreht.
Habt ihr gewusst, dass eine Wade siebenhundertvierzehn Muskelfasern hat? Ich hab sie gezählt!!!

Heute regnet es Bindfäden. Da werde ich in diese grässliche Muckibude gehen und dieses blöde Gerätetraining machen. Zwanzig Minuten Zeit totschlagen. Dann noch einmal zwanzig Minuten auf diesem bekloppten Fahrrad. Puh, ich laufe lieber 4 Stunden in Gummistiefeln durchs Watt, als diese dämlichen Geräte zu benutzen. 

Ich habe einfach zu wenig feste Anwendungen und zu viel freie Trainingseinheiten. Da sollen mein Schweinehund und ich uns selbst etwas ausdenken. Als wenn das klappen könnte. 

Ins Schwimmbad möchte ich nicht. Erstens wegen der frischen Narben. Die sind zwar geschlossen, glänzen aber noch rot. Und dann sind hier in der Klinik viele Hautkranke. Mit Schuppenflechte und anderen offenen Stellen. Die gehen tatsächlich schwimmen. Oh nein … da bekomme ich Herpes, wenn ich nur am Schwimmbad vorbeigehe. 

In die Sauna darf ich nicht, zum Glück. Da würde ich ebenfalls nicht rein wollen. Aus den gleichen Gründen, wie ich nicht ins Schwimmbad möchte. Nein danke.

Gleich gibt es eine Massage. 15 Minuten Rücken kraulen, das ist angenehm. 

… Das war angenehm. Nur zu kurz. …

So richtig Anschluss finde ich hier nicht. Keine Ahnung woran das liegt. Es will bei mir keine rechte Lust auf neue Bekanntschaften aufkommen. Manchmal glaube ich, ich werde asozial. Meine Tischnachbarinnen sind zwar nett, aber die gehören zur psychosomatischen Einheit und bilden bereits seit vier Wochen eine Gemeinschaft. Da fühle ich mich ein bisschen wie das oft besagte fünfte Rad am Wagen. 

Ansonsten habe ich keine feste Therapiegruppe. Es ist schwer, jemanden zu finden, der zur gleichen Zeit frei hat wie ich. So fehlt mir dann auch ein Walking Partner. Deshalb singe ich beim Laufen. Hört ja niemand.

Jetzt, nach der Massage, habe ich zwei Stunden Zeit bis zur Atemtherapie. Eine halbe Stunde geht davon noch fürs Mittagessen drauf. Es lohnt sich also nicht, sich in die Walking Klamotten zu zwingen. Würde bei dem Wetter auch keinen Spaß machen. 

Deshalb werde ich heute mal die Zeit nutzen und beim Arzt vorbeischauen. Herr Fliege (Name geändert). Sieht aus wie ein Späthippie. Ich glaub, der würde lieber Surfen, als Patienten zu behandeln. Dem werde ich eine Extramassage und vielleicht eine Lichttherapie aus dem Kreuz leiern.

Das Essen ist in Ordnung. Es fehlt nur der Kaffee am Nachmittag. Es gibt hier einen kleinen Kiosk in der Klinik. Der verkauft für eins-achtzig eine schwarze Brühe, die selbst der koffeinabhängigste Mensch nicht trinken würde.  Aber die Torten sind lecker. 

Hey – die Sonne lugt durch eine Wolke. Wenn jetzt noch Wind kommt, dann könnte ich vielleicht … Man soll die Hoffnung nicht aufgeben. 

Kunsttherapie kriegen nur die Depressiven. Ich, als Atemwegserkrankte, muss mir die Kunst allein machen und das Material kaufen. Hab ich auch gemacht. Die paar Kröten sind mir eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung wert. 

Leider geht die Kunsttante in den Urlaub, so dass ich ein zweites Bild gar nicht erst anfangen brauche. An die Farben kommt man nämlich nicht ran. Zwar hat man die Gelegenheit, bis in die Abendstunden und zwischen therapiefreien Zeiten die Räume zu nutzen, aber was nützt es einem, wenn sie die Farbe weg schließt? Ich brauche viel davon. Von der Farbe meine ich. 

Stricken könnte ich auch. Aber der Wollladen ist nicht gut sortiert und zu teuer. Eigentlich brauche ich auch keinen fünften Schal. 

War eben beim Arzt. Da hat die Fliege doch dienstfrei und die Schwestern sind auch ausgeflogen. tztztz …  Ein Lotter-Laden hier.

 Wo war ich? Ach ja – Freizeitbeschäftigungen. 

Ihr kennt mich. Ich habe selten Langeweile. Und damit mir hier nicht aus Versehen die Decke auf den Kopf fällt, habe ich vorsorglich zehn Bücher mit. Eins in Papierform, den Rest auf dem E-Reader. Die meisten davon habe ich bereits gelesen. Selbstverständlich habe ich alle meine Spanischsachen mit. Das Buch, die Hefte, die Grammatik und so weiter und den Schleppi, damit ich endlich diesen verdammten Roman schreiben kann. Und was ist? Keine Lust zu Nix. 

Lieber sitze ich hier und jammer rum, weil alles so doof ist. Mir ist Laaaangweilig ….

Mann oh Mann … wie mir das Sonnenlicht fehlt. (Die hat sich übrigens wieder hinter eine dicke Wolke verzogen, das Miststück).

 Ich gehe jetzt essen. Keine Ahnung, welches Menü ich mir für heute ausgesucht hatte. Wahrscheinlich ist das andere wieder besser. (Heul … wir werden alle sterben. 😂) 

So – und wenn sich jetzt noch diese Mail endlich auf den Weg machen würde, dann wäre der Tag ja fast gerettet. 

Ganz liebe Grüße oder Ommmm …  alles wird gut, 

Eure Tilly

… Stunden später … ein Funkloch – zu dicke Wolkenschicht – starker Westwind – was weiß denn ich, warum diese Mail nicht rausgehen will. Dann schreibe ich eben weiter. 

Das Mittagessen war wie befürchtet. 

Zu viele Erbsen und Mais (muss ich von pupsen), zu currymäßig angehauchte Sauce (passt nicht zum Fleisch) und ein in arg fettiger Panade eingelulltes Cordon Blöh. Da ich nicht aufgegessen habe, bleibt Platz für ein Stück Torte. Nachher. Nach dem Fahrrad. 

Jetzt hocke ich erstmal wieder vor dem PC und horche in mich hinein, worüber ich mich sonst noch aufregen kann. 

Über den Baulärm sage ich jetzt mal nichts. Da kann ich froh sein, dass ich keinen Meerblick habe, sondern aus dem ersten Stock auf die Schwimmhalle und ein Hochhaus schaue. Hier unten hört man den Lärm nicht so doll. 

Die Klinik wird erweitert. Es werden zwei weitere Etagen oben drauf gesetzt. 

Die Bewohner des dritten Stockwerks hatten schon an Regentagen nasse Bettwäsche. Oder der Baustaub dringt direkt ins Zimmer, auch bei geschlossenem Fenster. 

Und nicht nur der Baustaub dringt in die Räume. Nein, ab und an auch mal ein Bauarbeiter. Da liegt vielleicht mal gerade jemand nach der Anwendung zum Ausruhen auf dem Bett … klopf klopf … ganz zaghaft und 2 Sekunden später steht ein fremder Mann im Zimmer. Naja – nicht bei mir. Aber bei meiner Tischnachbarin. Die war darüber not amused. Verstehe ich nicht. Ist doch mal eine Abwechslung zu diesem drögen Klinikalltag. Aber die Psychos (wie sie sich selber nennen), die sind schwer zufriedenzustellen. 

Wegen der Baustelle finden einige Anwendungen in Baucontainern statt. Zum Beispiel mein Yoga Kurs. Dass die Gruppe schon wieder nur neue Gesichter für mich parat hält, egal. Aber in der Bude war es arschkalt. Und wie wir so da auf unseren Matten liegen, bei Temperaturen unter der für Tilly nötigen Wohlfühlgrenze, und uns auf dem himmelfarbenen, also grauen, Linoleum entspannen sollen, krabbelt da nicht eine scheunentorgroße Schwarze Witwe über den Boden. Die Frau neben mir kreischt iiiieeehhhh und Arrrgh, springt auf, nimmt einen Schuh und tötet die Spinne. Entsetztes Aufheulen bei der Yoga Tante, die übrigens nicht so wirklich die neuesten Übungen drauf hat. Also, die entsetzt: „haben sie die Spinne etwa getötet?“ 

„Und ob,“ antwortet die blasse Frau voll Jägerstolz. „Die war eindeutig zu groß und zu dicht“. 

Ich habe leise gestöhnt und mit den Lippen an „Danke!“ an die Killerin geschickt. 

Eins muss ich euch noch erzählen. 

Ich wohne hier in der Strand – Klinik. Bei dem Wort Strandklinik, was assoziiert ihr damit? Richtig – die Klinik liegt am Strand. Nicht am Wald oder 3 km vom Strand entfernt. 

Genau das hab ich auch gedacht, als ich mich für diese Rehaklinik entschieden habe. Nun soll man ja nicht denken, wenn man schwer krank ist, ich weiß. 

Also, ich würde die Klinik umbenennen in „so – weit – weg – vom – Strand,- dass – man – Wanderschuhe – braucht – und – ein – bisschen – weiter -Klinik“. Es kann schon mal gut eine halbe Stunde vergehen, bis du am Wasser bist. Wenn die Nordsee sich nicht zurückgezogen hat. 

Wenn die See mal wieder nicht zu sehen ist, dann … gehe ich nur bis zur Sandbank. Nachher verlaufe ich mich noch im Watt. Nee, nee … meist ist das Wasser weg, wenn ich rausgehe. Und so eine lange Strecke allein zu laufen, das ist wie: ich glaub, wir kommen nie an.

 Nein, ich übertreibe. So schlimm ist es nicht. Aber knapp davor. 

Zum Glück kommt Schatz am Wochenende zu Besuch. Um bis Mitternacht Ausgang zu bekommen, muss man sich eine Genehmigung beim Arzt holen. Wenn er den mal da ist.
Dann kann man mit dem eigenen Schlüssel sogar die Haustür zum Haupthaus aufschließen und – schwupps – ist man drin. Hat nur einen Haken. Das Schloss ist sehr weit oben an der Tür angebracht. Ohne Leiter werden weder ich noch Schatz die Tür aufschließen können. Da werden wir wohl nachts mal eine Räuberleiter probieren. Da müssten wir aber erst die Überwachungskameras ausschalten. Wäre doch zu blöd, wenn wir beim Stürzen auch noch gefilmt werden.

Gleich muss ich zur nächsten Atemtherapie. Der liebeskummerkranke Therapeut, wahrscheinlich nicht hetero, wartet schon mit Klugscheißer Alarm, wetten!?

Ach was. Der ist ganz nett. Die sind alle ganz nett. Aber nett ist … was? – Genau!

 So – nächster Versuch, die Mail abzusenden. 

Tschüss, ich muss los.

Morgen könnt ihr den zweiten Teil dieser epischen E-Mail lesen.

Hat dir der Beitrag gefallen oder möchtest du nur einmal „Hallo“ sagen, dann lass gern einen Kommentar hier.