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Inhalt heute:
Eine erschreckende Erfahrung – Teil 3 –
Heute wird es passieren. Heute muss ich meine Muse aus dem Keller befreien und diese impertinente Person von dunkler Schwester loswerden. Ich habe auch schon eine Idee.
Die Dunkle beobachtet mich fortwährend. Sie sitzt in meinem Sessel und lauert. Ich fühle mich wie die Fliege in einem Spinnennetz. Wenn mein Plan nicht gelingt, bin ich verloren. Dann wird sie mich weiter blockieren und es wird grau in mir werden. Sie würde nie wieder gehen. Die Dunkelheit wäre für immer in meiner Schreibkammer. Und meine Muse würde für immer fern sein. Der Plan muss gelingen.
Ohne die dunkle Schwester zu beachten nehme ich den Telefonhörer in die Hand und wähle die Nummer meiner Tante. Die ist im Urlaub und nicht zu Hause, aber das weiß die dunkle Schwester nicht.
„Hallo Tante Friedel.“ Ich spreche laut genug, dass die Dunkle mich hören kann. „Wie geht es dir? Ja. Mir geht es besser. Du hör mal, ich schreibe gerade an meinem Roman. Wie bitte? Ja, heute habe ich viele Ideen.“ In Wirklichkeit habe ich nicht ein brauchbares Wort geschrieben. Nur Papier bekritzelt, wild auf der Tastatur herumgehackt und zusammenhangloses Zeugs getippt. Aber das sieht die Schwester nicht. Sie kann es nämlich nicht unterscheiden. Sie kann nicht erkennen, ob es sich um Unsinn handelt, den ich schreibe, oder um weltbewegende Themen.
Ich setze das Telefonat mit der nicht anwesenden Tante fort: „Du Tante, du kennst dich doch aus. Kannst du mir sagen, in welchem Jahr die große Flut war? Ja, die hier in Hamburg? Ach? Danke für die Info – ja, ich komme gut voran mit dem Buch. Selbstverständlich. Ich schicke dir nachher mal ein paar Seiten zum Probelesen. Okay. Danke. Und bis bald.“
Ich lege auf. Die Dunkle steht vor meinem Schreibtisch und atmet heftig ein und aus.
„Was machst du da?“, fragt sie. Ich beachte sie nicht, sondern schreibe eine Jahreszahl und ein paar Sätze, die weder mit der Flutkatastrophe noch mit meinem Roman zu tun haben.
„Was machst du da?“, fragt sie erneut. Ihre Stimme ist krächzend. Ich hebe kurz den Kopf und blicke sie an.
„Wie bitte? Hast du etwas gesagt?“ Ihr Mund steht offen. Gut so. Ich beuge mich wieder über meinen Text. „Ich kann jetzt nicht mit dir reden, ich möchte arbeiten.“ Meine Finger flitzen nur so über die Tastatur.
Sie haut mit der Faust auf den Schreibtisch. Aber ich beachte sie nicht. Dann rauscht aus dem Raum. Sie hört überhaupt nicht auf zu kreischen. Eine Stunde später ist es still. Ob sie verschwunden ist?
Ich tippe noch einige Sätze, die sogar ganz brauchbar sind und lausche erneut. Als ich nichts weiter höre, schaue ich in jeden Raum.
Sie ist weg!
Erleichtert gehe ich in den Keller und sehe nach meiner Muse.
Diese sitzt schweigend und erschöpft in der Vorratskammer auf dem Boden und betrachtet die Regale. Buchstaben in allen möglichen Schriften, Sätze, Worte und Satzzeichen, fein eingelegt in bunter Flüssigkeit, in unterschiedlichen Gläsern, mit roten Gummiringen luftdicht verschlossen.
Ich setze mich neben sie und lege den Arm um ihre Schulter.
„Kaffee?“, frage ich. Muse nickt. Wir stehen auf.
Sie nimmt ein großes Glas mit Buchstaben in Tahoma Punkt 11 aus dem Regal, sieht mich grinsend an und sagt: „Das sind besonders leckere Happen. Die nehmen wir zum Dessert.“
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