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Inhalt heute:
Eine erschreckende Erfahrung …
Teil 2
Die Muse hantiert im Keller. Ich höre Geklirre und Gepolter. Was war in dem Koffer, den die Schwester mitgebracht hat? Was soll sie sortieren und warum? Mein Kopf platzt gleich. Meine Schläfenlappen verengen sich vor lauter Denken. Denk nach, denk nach! Was soll ich tun?
Der dunkle Teil der Familie Muse nimmt wieder in meinem Sessel platz und starrt mich grinsend an. Sie weiß, wie mir zu Mute ist. Das kann ich spüren. So ein Biest.
Ich versuche, sie nicht direkt anzublicken. Hoffentlich merkt sie nicht, dass ich sie verstohlen aus den Augenwinkeln betrachte.
Sie ist nicht hässlich. Die dunklen Haare, die wie Tinte glänzen, umrahmen ihr blasses Gesicht in dicken Strähnen. Ihre Haut wirkt blutleer. Dafür funkeln die Augen, wie zwei schwarze Sterne. Sie ist nicht geschminkt, nur Ihre vollen Lippen haben dieses Rot, das wie eine Signalampel leuchtet. Der Mund ist der einzige Farbfleck an dieser Person. Ihre Gestalt vermag ich nicht zu erkennen.
Sie ist in nachtfarbene Rüschen und Taft gewandet. Die Knöpfe an den Ärmeln und am Rücken sind schwarze Perlen. Ich glaube, diese Art Kleidung trug man im achtzehnten Jahrhundert. Wallender und raschelnder Stoff. Es fehlt nur der Hut mit Schleier.
Aus den langen Ärmeln ragen schmale, weiße Hände mit grazilen Fingern, deren Nägel in feinem Perlmutt glänzen. Ihr Herz ist mit Sicherheit aus Granit. Ihren Namen kenne ich noch immer nicht. Muse hatte nicht die Gelegenheit bekommen, sie mir vorzustellen.
An dem Tag, an dem sie, die dunkle Schwester, in mein Haus schwappte, veränderte sich mein Leben. Sie hatte meine Muse mit einer Umarmung begrüßt und unter einem Wortschwall, von dem ich nicht eines verstand, Richtung Keller bugsiert. Muse hatte verdattert gestarrt, als hätte sie eine Erscheinung. Das ihr sonst so eigene Lächeln wurde mit jedem weiteren Satz dieser Frau aus ihrem Gesicht radiert. Aber sie hatte nichts gesagt und nicht das Geringste dagegen getan. Auch ich war sprachlos. Wie gelähmt über diese Dreistigkeit. Ohne Gegenwehr übernahm dieses Wesen die Regie und alles andere in ihren Besitz.
Ich habe seit Donnerstag nicht mehr richtig gegessen. Mein Magen knurrt hörbar.
„Ich werde gehen und mir ein Brot machen“, sage ich so beiläufig wie möglich.
Sie folgt mir diesmal nicht. Sie nimmt stattdessen das angefangene Manuskript und beginnt darin zu lesen.
Auf dem Weg in die Küche komme ich an der Tür zum Keller vorbei. Leise drücke ich die Klinke herunter. Die Tür knarrt. Ich wollte sie schon lange geölt haben. Besorgt sauge ich die Luft zwischen die Zähne.
Jetzt möglichst kein Geräusch machen.
Langsam öffne ich die Tür noch ein Stück weiter und schlüpfe durch den Spalt. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend steige ich die Treppe hinunter.
Im hinteren Raum, der als Vorratskammer dient, brennt Licht. Mit langen Schritten eile ich darauf zu. Hoffentlich hat die dunkle Schwester nicht mitbekommen, dass ich in den Keller bin. Ich muss dringend mit meiner Muse sprechen.
Noch bevor ich den Raum erreiche, packt mich eine kalte Hand hart am Arm und reißt mich nach hinten.
„Lass das! Du würdest sie stören.“ Grob schiebt mich die dunkle Schwester zurück die Treppe hoch und weiter in meine Schreibkammer. Ich erhebe keinen Protest, obwohl mein Körper in Aufruhr ist. Alle meine Sinne schreien, ich möchte mich aus ihrem Griff befreien und um mich schlagen. Aber ich kann nicht irgendeinen Muskel rühren, nicht einmal meinen Zungenmuskel. Wortlos lasse ich mich schubsen. Sie drückt mich in den Schreibtischstuhl, dann lacht sie aus voller Kehle. Es klingt rau und laut.
„Versuche nicht, mich zu hintergehen.“
Mit dem kleinen Finger wischt sie sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.
„Du bist eine lustige Vogelscheuche, weißt du das? Warum zitterst du?“
Ich kann meine Hände nicht unter Kontrolle bringen. Auch der Rest meines Körpers schüttelt sich in Zuckungen. Widerlich.
„Du bist genauso wie das, was du schreibst: lächerlich, klein, inhaltslos und unheimlich töricht. Nichtssagend sozusagen.“ Angeekelt verzieht sie ihren Mund, als wäre ich mit Schimmel übersät.
Es schnürt mir die Kehle zu. Eine Träne quetscht sich aus dem Kanal.
„Bitte … nicht jetzt noch heulen.“ Triumphierend lächelt sie auf mich herab.
„Versuche es einfach noch einmal. Obwohl… nein, lieber nicht. Verschone die Welt mit deinen Pamphleten und begehe keine weiteren Umweltsünden, in dem du nutzlos Papier verschwendest. Vielleicht solltest du dir ein anderes Hobby suchen.“
Lauschend legt sie den Kopf schief.
„Ich werde mal nach meiner kleinen Schwester sehen.“ Dann rauscht sie davon.
So eine Traurigkeit habe ich lange nicht mehr gespürt. Aber ich bin nicht nur traurig. Ich bin vor allem wütend. Beide Gefühle lähmen mich.
Auf dem Teppich liegt das achtlos hingeworfene Manuskript. Als ich es mit bebenden Fingern aufhebe, fällt mein Blick auf die erste Seite:
„Wer aufgibt, hat schon verloren“
Volksmund
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